17.01.09

Wie die Bilder von uns gehn

... Ein Kuss auf der Strasse, auf den Mund. Es machte mir nichts aus, dass die Leute schwatzend vorbeigingen und schauten, und ein stiller Passant schmunzelte. Es ging ein leichter Wind und ich wollte all dies. Ich wollte dieses schöne Bild.
Er hielt mich, locker, bequem in seinen Armen, und da war diese elektrische Spannung, dieses Knistern, kurz bevor unsere Münder sich berührten. Ich tastete mit den Lippen seinen Mund ab, seine Lippen fügten sich, warm und weich und duftend. Die Zungenspitzen suchten einander, meine Finger an seiner Wange. Unsere Zungen, die sich fanden, umeinander drehten, miteinander spielten, rauften und balgten und einander stupsten. Wie weich und warm sein Mund war. Herzklopfen. Unsere Körper näher, warm werdend, sehr warm, erregt und vergnügt und glücklich. Innerlich jubelnd. Genuss, Genuss überall. Ein Kuss ins Gefühl. Fühlen und gleichzeitig alles und nichts mehr wahrnehmen. Nur noch seine warmen Lippen auf meinem Mund, ganz drauf, und seine neugierige verwöhnsüchtige Zunge.
Raum und Zeit lösten sich auf in diesem Kuss, in dem soviel Leidenschaft, soviel Lust, soviel Gieren nach Köstlichkeit und Befriedigung lag...

12.01.09

Unterwegs 4

Und ich erinnere mich. Erinnere mich an die Zeit, als ich mit einer Schafherde unterwegs war, Winter für Winter. Es war eine Winterwanderung wie jetzt. Aber ich ging im Rhythmus der Tiere. Sie wollten bleiben und fressen. Und wenn die Weiden abgegrast waren, zogen wir weiter.
Seit ich sesshaft bin, reise ich. Ich reise, weil ich die Menschen und Gegenden sehen will, über die ich gelesen habe, von denen ich gehört habe, von denen ich geträumt habe. Ich war als Schäferin all die Jahre unbeweglich und träumte die Welt. Ich war immer bei der Herde. Der Rhythmus der Tiere war die eigentliche Bewegung.
Nomaden reisen nicht, sagt Gilles Deleuse (L'Abécédaire V comme voyage). Nomaden wollen auf ihrem Boden bleiben. Sie klammern sich an ihren Boden. Nichts ist unbeweglicher als ein Nomade, sagt er. Nichts reist weniger als ein Nomade. Sie sind Nomaden, weil sie nicht verlassen wollen. Ihr Boden verwüstet, weil sie sich daran festbeissen.
Deleuse fügt an, dass Leute reisen um ihren Vater zu finden.
(Das ist vermutlich der Beweggrund der meisten Globetrotter, die ich kenne. Sie reisen immer wieder.)
Die Frage ist, ob ein Leben ausreicht um das zu finden, wonach man sein ganzes Leben sucht.

10.01.09

Unterwegs 3



Ich gehe und frage mich. Frage mich, wie die Menschen leben. Wie man das Leben unter diesen und jenen Umständen ertragen kann. Frage mich beispielsweise auch, wie die Milchkontingentierung funktioniert. Oder wie man foie gras kocht, mit gedörrten Feigen und Rosinen.
Ich schaue, was mir begegnet und träume vor mich hin.


Frage mich, wie es wäre, wenn mein Traum plötzlich leibhaftig vor mir stünde. Die Wahrscheinlichkeit einer Enttäuschung im Falle eines wahrgewordenen Traumes ist proportional zu der Zeit, die man damit verbracht hat sich in den Traum hineinzusteigern. Das habe ich irgendwo mal gelesen. Also ist Enttäuschung gleich Zeit mal Traum im Quadrat.
Ich erzähle mir Geschichten auf französisch.
Frage mich, wie man mit Tauben jagt.
Oder wie man Brieftauben dazu bringt, ein bestimmtes Ziel anzufliegen.
Frage mich, wie vin noir schmeckt.
Ganz oft begleitet mich eine Musik. Ein Lied.
Die ganze Zeit bin ich guten Mutes und geniesse das Alleinsein. Ich schaue hier und gucke dort. Und habe keine Sorgen. Die schöne Art zu leben. Das Alleinsein geniessen heisst, dass ich schöne Dinge sehe und schöne Gedanken habe und mir niemand wünsche, der das alles mit schön findet.

Unterwegs 2

Ich habe Glück. Es ist Winter und die Pilgerer sind nicht unterwegs. Die Herbergen sind leer. Seit drei Wochen habe ich unterwegs keine einzige Menschenseele angetroffen. Das ist enormes Glück. Und Gehen ist insgesamt gut für das Leben. Es bringt neue Ideen. Fokussiert. Ich kann es allen empfehlen mindestens 600 km am Stück zu gehen.
Es ist wichtig, dass Menschen Dinge erfahren.
"Erfahrung ist wertvoller als Einsicht" lese ich zufällig gerade hier in einer französischen Zeitschrift. Habe keine Bücher dabei und lese alles, was mir in die Hände kommt. Ein Essay von Gaétan Picon über Balthus. Gaétan, dieser Name... Erfahrungen sind wertvoll. Oder wie Coelho wahrscheinlich sagen würde: Man muss selber im Regen stehen um zu erfahren wie es ist, nass zu sein.
Der Vorteil des Pilgerweges ist, dass man alle zwanzig oder dreissig Kilometer auf eine Herberge trifft, die in dieser Jahreszeit zwar geschlossen ist, aber dann doch ein Bett bereithält. Der Nachteil ist, dass man die alten, einsamen und liebesbedürftigen Herbergsmütter, oder noch schlimmer, unglückliche Paare, die sich auf dem Pilgerweg getroffen und zusammen Pilgerherbergen eröffnet haben, und noch immer im Regen stehen und nur so triefen vor Lösungen, mit müden Ausreden abwimmeln muss.
Aber man kann auch der einzige Gast in Hotels wie diesem hier sein und mit der Besitzerin, einer kleinen, distinguierten alten Dame einen Armagnac trinken.

09.01.09

Unterwegs1

Unterwegs



Ich bin auf einen Pilgerweg geraten. Leider gibt es keine Spazierwege in Südfrankreich auf dem Land. Nur asphaltierte Strassen oder Schlammspuren. Franzosen fahren halsbrecherisch und nehmen keine Rücksicht auf Fussgänger. Also bleiben nur die Schlammwege, welche von Berlin, Paris, Wien und Rom in Südfrankreich gebündelt nach Spanien führen.

Nun sind Pilgerwege für viele Menschen bedenkenlos, aber für mich sind sie ein Gräuel. Ich mag keine Wege gehen, welche tausende von Sinn und sich selbst Suchenden gegangen sind. Horden von genussfeindlichen, angespannten, grauhaarigen, Tagebuch schreibenden, leidenden, religiösen oder kontaktgeilen, in eine Richtung strömenden Egoisten, die Zeichen suchen, und ihre Leere mit Lebensweisheiten, Sprüchen und Antworten füllen. Glauben Sie mir, was ich in Gästebüchern von Pilgerherbergen gelesen habe ist grauenhaft. Und alle bekommen von allen Antworten, auch wenn sie die Fragen nie kannten. Es ist, als würde man einen Paulo Coelho Roman lesen.
Ich habe es nie geschafft, einen Coelho zu lesen. Obwohl mir der Alchemist bestimmt zehn Mal geschenkt wurde. So sind die Leute: Sie lieben Lösungen. Es ist ein Buch voller Lösungen. Nach den drei ersten Abschnitten wurde mir so übel, dass ich es wegwerfen musste.